Wenn ich als Sprachcoach mit Leuten darüber spreche, wie sie Sprachen lernen wollen, sagen sie mir häufig: „Ich bin der visuelle Typ. Ich muss das Wort geschrieben sehen, um mich daran zu erinnern.“ Vor zehn Jahren hätte ich das auch so gesagt.
Aber was bedeutet das, ein visueller Typ zu sein?
Und was ist der Stellenwert des Lesens und Schreibens, vor allem in den frühen Stufen des Sprachenlernens?
Ich bin kein Experte für Lernmethoden, also versuche ich gar nicht erst zu definieren, was ein visueller Typ ist. Aber ich will versuchen, den visuellen Typ des Lerners von demjenigen zu unterscheiden, der einfach nur das Wort sehen will, um es aufzuschnappen. Es absolut legitim, sich Wörter aufgeschrieben anzusehen, um sie sich zu merken.
Manchen Menschen hilft es in beträchtlichem Maße, ein geschriebenes Wort zu sehen, dann können sie sich besser daran erinnern. Diese Menschen sind, insofern ich das beurteilen kann, visueller Lernertypen, und sie sollten das Lesen zum wichtigen Teil ihres Sprachenlernens machen.
Allerdings muss ich diese Aussage relativieren. Visuelle Lernertypen sollten zwar das Lesen als Hilfe beim Sprachenlernen betrachten, aber sie sollten auch anerkennen, dass das Hörverständnis die Grundlage für jegliches Erlernen einer Sprache ist.
Anders ausgedrückt sollte das Lesen nie der einzige Weg sein, eine Sprache zu lernen, und es sollte auch nicht der erste Weg sein. In einem frühen Stadium des Sprachenlernens muss man seine Fähigkeit für das Hörverständnis und die Sprachverarbeitung ausbauen, in dem man viel gesprochene Sprache angehört.
Wenn man zu viel liest und schreibt, umgeht man die wichtigste und am meisten benötigte Fähigkeit (Hörverständnis) und ersetzt sie durch eine zweitrangige Fähigkeit (Lesen). Auch für visuelle Lernertypen sollte das Lesen der Entwicklung des Hörverständnisses dienen und es nicht ersetzen.
[pullquote]Visuelle Lernertypen sollten anerkennen, dass das Hörverständnis die Grundlage für jegliches Erlernen einer Sprache ist. [/pullquote]
Anstatt also die meiste Zeit für das Lesen aufzuwenden, sollte man versuchen, es maximal ¼ der Zeit zu tun, die man für das Lernen ansetzt. Dazu sollte man Aktivitäten durchführen, die das Mündliche unterstützen: Vokabellisten aufschreiben und durchlesen, zu denen man Sprachaufnahmen hat, Geschichten lesen, die man gehört hat etc.
Studien haben aber gezeigt, dass für fortgeschrittene Lerner einer Sprache ausführliches Lesen absolut notwendig ist, wenn sie ein sehr hohes Niveau erreichen wollen (zum Beispiel Niveau 4 der ACTFL-Skala). Das Problem ist, dass die meisten von uns meilenweit von diesem Niveau entfernt sind und wir uns daher primär auf Hören und Sprechen konzentrieren müssen und (die visuellen Lernerntypen) Lesen und Schreiben als Unterstützung der mündlichen Fähigkeiten nutzen.
(Anmerkung: Ich gehe davon aus, dass wir vom Erlernen einer verschriftlichten Sprache reden mit einem ausgearbeiteten Schriftsystem und verfügbaren schriftlichen Dokumenten. Tausende von Sprachen auf dieser Welt sind aber noch nicht verschriftlicht. Wenn das also nicht der Fall ist, kann man beweisen, dass man das machen kann, was jedes Kind tut: eine Sprache lernen ohne auch nur ein einziges Wort zu lesen oder zu schreiben.)
Wie ich eingangs gesagt habe, ist aber nicht jeder, der ein Wort geschrieben sehen will, ein visueller Lernertyp.
Warum?
Sollten wir uns nicht auf das verlassen, was die Leute sagen und sie einfach lesen lassen?
Meine Bedenken dabei sind, dass die Menschen sich nicht wirklich besser an ein geschriebenes Wort erinnern, sondern die Schrift als Krückstock für ihr unterentwickeltes Hörverständnis nutzen. Ich meine folgendes: Wenn man ein neues Wort hört, besonders in einer Sprache, die man neu lernt, bekommt man es vielleicht nur bruchstückhaft mit. Man bittet um eine Wiederholung und versteht es immer noch nicht so richtig. Also bittet man darum, es aufzuschreiben. Dann sagt man: „Ach, so klingt das also.“ Man hat aber das Wort gar nicht mehr gehört, sondern nur ein schriftliches Abbild der Aussprache gesehen.
Was ist das Problem dabei?
- geben nicht alle Schriftsysteme die Laute einer Sprache gut wieder. Englisch ist erstklassiges Beispiel dafür.
- kann man nicht in jeder Situation darum bitten, das Wort aufgeschrieben zu bekommen. Man muss sein Hörverständnis dahin entwickeln, fast alle Teile eines Wortes durch reines Hören mitzubekommen.
Das geschriebene Wort ist nur ein Abbild dessen, was in dem gesprochenen Wort steckt. Es ist also sinnvoller zu lernen, das Wort richtig zu hören, anstatt das Hörverständnis durch eine unvollkommene schriftliche Darstellung zu ergänzen. Der Sprachlernexperte Greg Thomson sagt: „Man kann nicht mit seinen Augen hören.“
Vorsicht also, wenn jemand sagt, er sei ein visueller Lernertyp und müsse daher die Wörter geschrieben sehen statt sie zu hören. Es kann sich wirklich um einen visuellen Lerner handeln und man kann ihn unterstützen, wie ich es oben beschrieben habe – aber Tinte ist unhörbar !
Warum also nicht darum bitten, dass der Sprecher – statt das Wort niederzuschreiben – das Wort Laut für Laut langsam wiederholt? So kann man alle Teile erfassen und verarbeiten, während man sie hört, und sie nicht nur Symbole auf einem Blatt Papier werden.
Das heißt nicht, dass man nie darum bitten soll, ein Wort aufgeschrieben zu bekommen, oder dass man nie lesen oder schreiben soll. Es geht vielmehr darum, dass die mündlichen Fähigkeiten eigentlich immer den Vorrang vor den schriftlichen haben sollten, damit man auf natürliche Art und Weise in einer Sprache vorankommt.