Sprachschüler klagen häufig über das Lernen von “nutzlosen” Vokabeln: Warum soll ich lernen, wie man „die Vogelscheuche“ sagt? Ich werde dieses Wort nie gebrauchen! Warum nicht wichtigere Wörter lernen, Wörter wie „die Wassermelone“, „das Studium“ und „die Toilette“? Oftmals wird geglaubt, dass einige der grundlegenden, greifbaren Vokabeln, die bereits ein 4-jähriges Kind kennt, nicht sehr wichtig sind zu lernen.
Ich werde beweisen, dass jedes Wort zählt: Es lohnt sich, jedes beliebige Wort zu lernen, das in einem Gespräch, im Sprachkurs oder im Fernsehprogramm auftaucht. Seltene oder scheinbar „nutzlose“ Wörter stehen in keinem Wettstreit mit „wichtigeren“ Wörtern; sie dienen vielmehr dem Gesamtbild der Sprachkenntnis.
Also, warum zählt jedes Wort?
1. Wörter sind morphologisch (in ihrer Struktur) und etymologisch (in ihrer Herkunft) zusammengebaut. Zu einem gewissen Grad hat jede Sprache ihren eigenen Bausatz. Wer auf Deutsch „die Wohnung“ versteht, der befindet sich bereits auf halber Strecke zu „das Wohnmobil“. Wer das Verb „vorschreiben“ kennt, der tut sich wahrscheinlich leichter „die Vorschrift“ zu verstehen. In manchen Sprachen werden auf hoch komplizierte Weise gewisse Wörter zu weiteren verwandten Wörtern ausgebaut. Ganz egal um welches so gedachte „nutzlose“ Wort es sich handelt, es kann durchaus der Schlüssel zum Verstehen eines anderen „gewichtigeren“ Wortes sein. Wie in unserem Beispiel von der „Vogelscheuche“: Die „Scheuche“ ist abgeleitet vom Verb „verscheuchen“. Wer das eine Wort kennt, hat es gleich viel leichter mit dem anderen.
2. Wir sprechen tagtäglich in Metapher / Analogie. Viele haben in ihrem Sprachstudium eine klare Vorstellung davon, wie sie eine Gastsprache verwenden werden: Ich bin hier für meine Doktorarbeit. Demgemäß brauche ich nur die Vokabeln zu lernen, mit denen ich meine Forschungsarbeit überzeugend präsentieren kann. Oder: Ich will lediglich das Fach Ernährung & Gesundheit unterrichten, also beschränkt sich mein Lehrstoff auf diesbezügliche Vokabeln. Das Problem besteht jedoch darin, dass sich niemand auf eine definierbare Gruppe von Wörtern für einen bestimmten Bereich begrenzt. Wir benutzen vielmehr am laufenden Band bildlich übertragene Ausdrücke, sogenannte Metapher. Wir sprechen von einem „Flüchtlings-Tsunami“ oder von einer „Vogelperspektive“ oder von „diesem Sturm trotzen“ und so weiter und so fort. Nachdem ein beliebiges Wort in x-beliebigem Zusammenhang gebraucht werden kann, ist es klug und ratsam, sich einen umfassenden Wortschaft zu verschaffen und ihn so gut wie nur möglich zu beherrschen, was auch immer unsere Endziele sein mögen.
3. Keine Platzverschwendung im Gehirn. Ich bin zwar kein kognitiver Sprachwissenschaftler, aber alles Beweismaterial deutet auf die Tatsache, dass der Mensch nur einen kleinen Teil seiner geistigen Leistungsfähigkeit in Anspruch nimmt. Das menschliche Gehirn besitzt ein verblüffendes Fassungsvermögen, um sich Informationen einzuprägen und sie zu speichern. Also keine Sorge, die Vokabel „der Schlüssel“ wird nicht verdrängt, wenn man die Vokabel „der Riegel“ dazulernt.
4. Niemand weiß, wann sich der mögliche Kontext präsentiert. Es kann sich durchaus ergeben, dass du in einem wichtigen Gespräch über Vogelscheuchen redest. Es kann sich ebenso finden, dass du über Angelhaken sprechen musst. Wer kann das schon wissen!
5. Vertrauen und Achtung der Einheimischen wächst Dir gegenüber, wenn du Ihren Wortschatz so weit wie möglich vergrößerst. Muttersprachler empfinden es als unermesslich einfacher und spannender, sich mit einem Sprachschüler unterhalten zu können, dessen Wortschatz eine vielfältige Palette vorzeigt, im Sprechen und besonders auch im Verstehen. Es vermittelt Solidarität und Verständnis. Ein jeder schätzt es, wenn seine Welt zu einem tiefen Grad und bis ins Detail genau verstanden wird.
Darum, wenn jeder Muttersprachler das Wort kennt, warum solltest du es dann nicht gleichermaßen kennenlernen wollen?