Wir landeten in Afrika und alles, aber auch alles war anders. Das hatten wir erwartet.
Aber so viele Unterschiede dann doch nicht. Unbequeme Grenzbeamte, die unbedingt eine Adresse wollten, die wir aber nicht hatten. Unheimlich viele Kontrollen von Gepäck, Pässen, mit Abtasten und ähnlichem. Innerhalb kürzester Zeit waren wir völlig eingeschüchtert.
Nach ein paar Wochen fanden wir dann auch nette Aspekte des Landes und der Kultur. Wir trafen viele nette Leute, wirklich extrem nette Leute, viel humorvoller und gastfreundlicher als wir es aus Deutschland kannten.
Dem folgte dann später ein Phase des Entsetzens: so was Unorganisiertes hatten wir noch nie erlebt. Chaos überall.
Ein typischer Beginn von Kulturschock! Aber was genau ist das?
Um Kulturschock besser zu verstehen und einordnen zu können, müssen wir drei grundsätzliche Dinge verstehen:
– Was ist Kultur – im Gegensatz zur Natur?
– Was sind Klischees und Vorurteile?
– Was verstehen wir in diesem Zusammenhang unter Schock?
Konfrontation der Lebensweisen: Was ist Kultur?
Natur ist das System der Welt, die uns umgibt und das wir nicht ändern können. Wir können Natur umgestalten und in ihrer Wirkungsweise auf uns beeinflussen. Aber wie Natur funktioniert, Wetter, Schwerkraft, Tierleben, Pflanzenwelt, da hat der Mensch keine Gewalt drüber.
Im Gegensatz zur Kultur: Das ist die Art, wie Menschen ihr Leben, ihre Arbeit, ihre Familien gestalten, wie sie Traditionen errichten und sich ausdrücken. Und das tun sie in jedem Land anders, in jeder Region anders. Es gibt Dinge, die einfach für alle klar sind. Das einfachste Beispiel ist die Sprache. Warum heißt ein Hund auf Deutsch „Hund“? Das ist eine Konvention, der alle Deutschen irgendwie automatisch zugestimmt haben. Das Tier „Hund“ an sich hat mit dem Wort keine Verbindung. Ob man „dog“, „perro“, „chien“ oder „kelb“ sagt, ist dem lebendigen Hund egal. (In der Linguistik nennt man diese Beziehung „arbiträr“, „wilkürlich“.)
Das gilt auch für viele andere Dinge. In Deutschland isst man in der Regel den Teller leer. In Afrika gerade nicht, weil man mit einem leeren Teller anzeigt, dass man mehr will. Reste sind nötig. Das ist aber nicht in jeder Ecke Afrikas so. Und auch nicht in jeder Familie. So kann es sein, dass Personen oder Personengruppen sich gegen ihre Kultur entscheiden und bewusst anders sein wollen – wie z.B. Punks oder Rocker in Deutschland oder Jugendliche in Frankreich, die mit dem Verlan sogar ihre eigene Sprache erfanden (ver-lan = l’envers, umgekehrt, die Silben werden vertauscht, so dass komplett neue Worte entstehen).
Was sind Klischees? Wie äußern sich Vorurteile?
Wie eine Kultur ist, z.B. die deutsche, amerikanische oder französische, wie sie definiert werden kann, geht sehr schnell in Richtung Klischee. Ein Klischee ist etwas Schablonenhaftes über Menschen und Gruppen, das irgendwo einem wahren Kern entspricht, in ihrer Gesamtheit und Eindeutigkeit aber meist falsch ist. Das Klischee des fleißigen Deutschen ist insofern korrekt, dass Deutsche häufig mehr arbeiten als andere Nationen. Es ist aber überhaupt kein Problem, einen Deutschen zu finden, der faul ist, der ungern arbeitet, wie es auch überhaupt kein Problem ist, einen Nicht-Deutschen zu finden, der mehr arbeitet als die meisten Deutschen.
Der Begriff des Vorurteils ist ähnlich gelagert aber vorab negativ besetzt. Ein Vorurteil ist ein vorschnelles Urteil über eine Person, eine Gruppe oder auch eine Nation, das in der Regel nicht fundiert und somit falsch ist. Der „fleißige und langweilige Deutsche“ ist genauso ein Vorurteil wie der „französische Superliebhaber“, der „Spaghetti-fressende Italiener“ oder der „grob Amerikaner“.
Klischees und Vorurteile prägen unsere Wahrnehmung des anderen, ob wir es wahr haben wollen oder nicht. Man muss sich bewusst gegen sie wehren. Wir sind mit ihnen groß geworden. In gewisser Weise mögen sie nötig sein, da wir als Menschen Personen und Situation immer sofort beurteilen (müssen).
Was ist nun Kulturschock?
Ich begebe mich in eine andere Kultur, wo man auf dem Teller etwas übrig lassen muss, esse aber auf, weil das bei mir zuhause so ist. Und nun werde ich eine Reaktion meiner Gastgeber erleben, die nicht der erwarteten entspricht. Je nach Heftigkeit dieser Reaktion kann ich wiederum sehr erstaunt sein bzw. eventuell sogar geschockt oder auch einfach verwirrt.
Jetzt müssten wir besser verstehen können, was man allgemein mit „Kulturschock“ bezeichnet: die Konfrontation mit einer Kultur, die so anders ist als die eigene, das ich in eine Art „Schockzustand“ verfalle. Schock ist meiner Meinung nach hier das falsche Wort, weil man mit meinem Schock häufig eine Art Starre verbindet. Die tritt aber nicht so ein, wie das vielleicht bei jemanden der Fall ist, der einen schweren Unfall erlebt hat, der Zeuge eines schlimmen Ereignisses wurde oder eine furchtbare Nachricht erhielt. Viel eher ist man verwirrt, weil bekannte, aber nicht wirklich bewusst erfasste Regeln nicht mehr gelten und man das Geschehen nicht versteht, weder emotional noch rational einordnen kann.
Unser Beispiel mit dem leeren Teller trifft das sehr gut: Warum man den Teller leer isst, das ist kein Gesprächsthema in Deutschland. Es ist unhöflich, es nicht zu tun. Warum das so ist, das hinterfragen höchstens Kinder. Gibt es einen logischen Grund, warum Deutsche aufessen und andere nicht? Man kann einen konstruieren, z.B. die Annahme, dass Deutsche tendenziell eher nichts verschwenden wollen und nichts wegschmeißen möchten. Das wollen aber viele andere auch nicht unbedingt. Der Grund ist also eher eine Tradition, eine Vereinbarung, mit der jeder einverstanden zu sein scheint, deren Herkunft aber nicht klar ist.
Wie äußert sich Kulturschock?
Diese Verwirrung meines Empfindens in einer neuen Umgebung zeigt sich meist nur unterschwellig. Sie tritt auch nicht sofort ein. Am Anfang ist man meist begeistert von der neuen Kultur. Anderes kann ja auch faszinierend sein: Essen, Kleidung, Architektur, Musik. Man muss auch nicht geschockt oder verwirrt sein, weil andere nicht aufessen. Aber wenn Leute nur indirekt kommunizieren und nie so direkt und klar wie zuhause, kann das gewaltige Probleme verursachen. Umgekehrt genauso: Leute aus indirekten Kulturen fühlen sich manchmal beleidigt, wenn ihnen Freunde oder auch Vorgesetzte klar sagen, was sie zu tun und zu lassen haben – ohne irgendwelche Höflichkeitsfloskeln.
Es gibt verschiedene Stufen von Kulturschock, die wir im nächsten Artikel genauer ansehen.