In Teil 1 haben wir über die Vorteile von Rosetta Stone gesprochen, jetzt schauen wir uns mal die Nachteile an:
1 Erstens ermöglicht Rosetta Stone es nicht, in einer sinnvollen Weise zu sprechen. Da es richtigerweise auf das auditive Verständnis als Grundlage eines jeglichen Lernfortschritts ausgerichtet ist, ignoriert es fälschlicherweise die Sprachproduktion.
Natürlich hat man Gelegenheiten zu sprechen. Aber sie sind selten, man bekommt wenig sinnvolle Rückmeldungen und muss häufig nur etwas nachsprechen. Um die eigene Sprechfähigkeit zu entwickeln, braucht man aber VIELE Gelegenheiten zu sprechen, und zwar in unvorbereiteten Situationen und mit unmittelbarer Rückmeldung, die das Gesagte in einen idiomatischeren Satz umformuliert.
Rosetta Stone bietet das nicht für eine einzige Minute. Um fair zu sein: die Entwicklung von Software, die sinnvolle Gelegenheiten bietet, viel zu sprechen und eine unmittelbare Rückmeldung zu bekommen, würde die Entwicklung von so viel künstlicher Intelligenz voraussetzen, wie sie momentan unmöglich ist. Aber es ist sinnvoll, sich vor Augen zu führen, was Rosetta Stone (und alle anderen Programme, die kein direkte Interaktion ermöglichen) leisten können und was nicht.
2. Zweitens sollte man nicht dem Irrtum verfallen anzunehmen, dass man nach dem Abschluss der drei Niveaus von Rosetta Stone in einer bestimmten Sprache diese auch fließend spricht oder einen großen Wortschatz darin hat. Verkäufer von Sprachlehrprogrammen behaupten oft, man könne innerhalb einiger Wochen oder gar Tage eine Sprache „fließend“ (eine unsinnige Bezeichnung, wenn man sie in dieser Hinsicht verwendet) lernen, entgegen der Tatsache, dass Sprache unermesslich sind – „Ozeane“, wie die Araber sagen – und nicht nach einigen Lektionen beherrscht werden können.
Die Tatsache, dass man drei Niveaus abgeschlossen hat (und es gibt nur diese drei Niveaus), gibt einem ein falsches Gefühl der Sprachbeherrschung, wohingegen man in Wirklichkeit tausende und abertausende Wörter im aktiven Wortschatz braucht, um eine Sprache gut zu sprechen. Die Programme von Rosetta Stone bringen einen nicht annähernd dorthin. Sie ermöglichen einen guten Anfang, aber man sollte nicht glauben, dass man nach dem Abschluss die Sprache beherrscht. Man hat gerade erst angefangen.
3. Wie ich schon oben erwähnte, gibt es keine Möglichkeit zur wirklichen Interaktion bei Rosetta Stone. Sprachen sind keine reine Menge an Information, die man auswendig lernt, wie Mathematik oder Chemie. Sie stellen die Art und Weise dar, wie wir leben und miteinander agieren und die Welt verstehen. Wir müssen zwar mit dem Hörverständnis beginnen, dann aber zu einer sinnvollen Interaktion mit anderen Sprechern kommen. Sonst wird die Sprache immer eine passive Menge an Information bleiben, anstatt ein Weg zur Interaktion und Begegnung zu werden. Deswegen bleibt Rosetta Stone, wie alle Methoden für das einzelne Lernen, in seiner Wirkung begrenzt.
4. Viertens konzentriert sich Rosetta Stone zu einem frühen Zeitpunkt häufig auf grammatikalische Feinheiten. Das ist kein großes Problem, aber es ist mir nicht klar, warum der Lehrplan eher unwichtige Rechtschreibregeln oder detaillierte grammatikalische Regeln enthält (z.B. im Zusammenhang mit der Form der Präpositionen) bevor man auch nur die ersten hundert Wörter gelernt hat. Das kommt nicht allzu häufig vor, aber damit wird das Pferd von hinten aufgezäumt.
[pullquote]Rosetta Stone legt Grundlagen für gutes Hörverstehen.[/pullquote]
Schließlich gibt es noch ein Problem bei Rosetta Stone, das aber behoben werden könnte: die Bilder sind unveränderlich. Man kann sie nicht verschieben oder irgendetwas damit machen, außer darauf zu klicken, wenn die Stimme sie beschreibt. Wenn man also den Satz hört „Der Junge springt über den Stuhl“, klickt man auf das Bild mit dem Jungen, der über den Stuhl springt, und nicht auf das Bild mit dem Mädchen, das über den Stuhl springt oder mit dem Jungen, der auf dem Stuhl sitzt. Es wird verlangt, dass man den Satz versteht, aber es ist ein eher passives Verstehen.
Man kann nur zwischen wenigen Bildern auswählen und hat den Satz möglicherweise nicht voll und ganz verstanden. Wenn es hingegen auf dem Bildschirm 20 kleine Bilder mit verschiedenen Gegenständen und Handlungen gäbe, könnte man diese bewegen und damit das Gesagte darstellen. Wenn die Stimme sagt „Der Junge springt über den Stuhl“, zieht man den Jungen zum Stuhl und zeigt, wie er hinüberspringt. Das würde ein weitaus höheres Verständnisniveau erfordern und somit die Fähigkeiten beim Hörverständnis und bei der Verarbeitung des Gehörten eher verbessern als die passive Auswahl eines Bildes.
Alles in allem kann Rosetta Stone die Grundlagen für ein gutes Hörverständnis legen. Nach Abschluss der Lektionen kann man einige grundlegende Alltagssätze verstehen und hat einen Anstoß bekommen, seinen Wortschatz zu verbessern und an der Sprachbeherrschung zu arbeiten.
Dabei sollte man sich aber immer bewusst machen, dass es wirklich nur ein erster Anfang ist. Ich würde Rosetta Stone als vorbereitendes Material empfehlen für Leute, die in einen anderen Kulturkreis umziehen, oder aber als ergänzendes (nicht hauptsächliches) Material für Leute, die bereits eine Sprache lernen. Es bringt einen etwas voran, aber man erreicht nur ein begrenztes, elementares Hörverständnis und wenig bis keine aktive Ausdrucksfähigkeit.