„El Kaadim“ oder „El Kaadim-Gasse“ zwischen „Beb Soulka“ und „Sidi Jebali“ gelegen, war ein Stadtviertel, das für Kunst und Unterhaltung bekannt war. Dort veranstalteten Sängerinnen und Sänger häufig Partys in ihren Häusern. Eines Tages gab die bekannte Sängerin Chema Tbursquia in ihrem Haus eine Party mit vielen Getränken und ließ danach die Möbel im Kreis aufstellen, so dass die Gäste sich besser unterhalten konnten. Eine Person erzählte von jemanden aus ihrer Familie, der verstorben war. Aber während sie um den Verstorbenen trauerten, stand er plötzlich vor ihnen, sodass alle verängstigt davon liefen und schrien: „Es ist ein Dämon!“
Jemand rief: „Ich habe Angst vor den Toten, selbst wenn es mein Vater wäre“.
Aber Chema Tbursquia meinte: „Was ist so erschreckend an den Toten, wenn sie nicht mehr da sind? Nichts ist erschreckend an ihnen, weder sie selbst noch ihr Besitz, sei es ein Tisch oder eine Couch oder ein Kissen. Ich habe keine Angst vor den Toten“.
Einige glaubten ihr, andere nicht und so sagte sie: „Lasst uns eine Wette abschließen. Testet mich!“
Aber wie sollten sie sie herausfordern? Da schlug jemand vor:
– „Heute wurde jemand in Beb Soulka gehängt, und er hängt dort noch immer. Kannst du heute Nacht hingehen und das Seil abschneiden?“
Sie stimmte zu. Alle waren überrascht, aber Chema bestand darauf, dass sie das tun könne. Sie einigten sich, dass, wenn sie mit einem Stück Seil zurückkäme, jeder einen Geldbetrag bezahlen würde. Wenn sie aber die Wette verlöre, müsste sie allein für Essen, Getränke und Unterhaltung aufkommen.
Chema verließ das Haus. Sie nahm ein Messer und einen Stuhl mit, um den hohen Galgen zu erreichen, da es keine Wachen gab. Sie ging im Dunkeln, bis sie den Galgen erreichte. Um zu dem Erhängten zu gelangen, stieg sie auf den Stuhl. Sie schnitt das Seil ab, und der Mann fiel herunter. Als sie das Seil um seinen Hals löste, bewegte er sich ein wenig und nieste. Da lief sie erschrocken zurück, wie wohl jede Frau es tun würde, geriet nun doch in Panik und vergaß ihren Stuhl und ihr Messer. Wieder zurück fand sie die wartenden Gäste vor, warf ihnen das Stück Seil hin und fiel in Ohnmacht.
Der Gehängte aber hing dort seit dem Sonnenuntergang. „Onkel Hussein“, der öffentliche Henker, war müde gewesen und wollte früh nach Hause. Deshalb hatte er den Knoten des Seiles im Nacken des Mannes nicht gut genug fixiert, er hatte ihn stattdessen am Kinn befestigt. So war der Gehängte nur ohnmächtig geworden, und als sich das Seil löste, schlug er die Augen auf und fand sich auf dem Boden liegend wieder.
Was sollte der Mann nun tun? Er musste fliehen, aber wohin? Die Stadt war von einer hohen Mauer umgeben, und ihre Tore öffneten sich erst am Morgen. Er nahm das Messer und versteckte sich. Im Morgengrauen wurde das „Alouj-Tor“ geöffnet. Er zog sich einen Umhang über den Kopf und verließ die Stadt. Er rannte so schnell er konnte davon, denn er war sich sicher, dass sie ihm folgen und ihn suchen würden. Deshalb versteckte er sich erneut und machte sich erst wieder auf den Weg, als es dunkel wurde. Das wiederholte er tagelang. Manchmal ruhte er sich irgendwo aus. Einige Leute boten ihm ein Stück Brot an, andere verjagten ihn.
Nach drei oder vier Tagen der Flucht sah er den Turm einer Moschee. Da wusste er, dass er in Kairouan war. Es wurde bald dunkel, und die Stadt würde bald ihre Tore schließen. Deshalb schlich er schnell noch hinein und erreichte „Ineh Akther“, einen Friedhof, der keinen Platz zum Schlafen und Verstecken bot. Er war nur von Gräbern umgeben. Er saß an einem Grab und legte seine Hände auf den Boden und fühlte etwas Feuchtes, denn das Grab war ganz frisch. Es war damals in Tunesien üblich, dass man erst nach zwei, drei Tagen die Toten begrub, während dies in anderen Ländern bereits am ersten Tag geschieht.
Der Mann war erschöpft, nachdem er den ganzen Tag zu Fuß unterwegs gewesen war. Er legte sich zum Schlafen auf das Grab. Da hörte er ein Geräusch aus dem Boden wie ein menschliches Winseln. Zuerst hatte er Zweifel, aber dann war er sicher, dass das Geräusch genau aus diesem Grab kam. Er nahm das Messer und begann zu graben. Einen Stein nach dem anderen legte er beiseite, bis ein Loch im Boden entstand. Jetzt wurde das Geräusch lauter. Er war verwirrt und schwitzte, aber er grub weiter, nahm Steine weg und warf Erde zur Seite. Schließlich erreichte er den Sarg. Hohe Schreie waren nun zu hören. Also versuchte er, den Sarg zu öffnen. Darin war eindeutig ein Mensch, eine Frau. Sie begann erneut zu schreien und wurde ohnmächtig. Er zog sie heraus, legte sie auf den Boden und ohrfeigte sie, um sie zu wecken.
Sie wachte auf und sagte:
– „Mögen diejenigen, die mich wiederbelebt haben, leben und diejenigen, die mich getötet haben, sterben.“
– „Was ist passiert?“ fragte der Mann.
– „Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich erinnere mich nur daran, dass ich zu Hause und krank war.“
– „Wie kommst du hierher?“
– „ Ich weiß es nicht.“
– „Du bist in einem Grab.“
– „Wahrscheinlich dachten sie, ich sei tot, als ich ohnmächtig wurde und begruben mich.“
– „Wessen Tochter bist du?“
Sie versuchte, sich zu erinnern und seine Frage zu beantworten, aber es gelang ihr nicht. Was sollten sie jetzt tun? Es war dunkel, und die Türen der Stadt waren geschlossen. Außerdem war es kalt. Er nahm seinen Umhang ab und legte ihn um ihre Schultern. Nach einer Weile schlief sie ein.
Am Morgen wurden die Stadttore geöffnet.
– „Ich werde dich nach Hause bringen. wo wohnst du?“ fragte der Mann.
– „In Houmet Jemaa“
– „Wo ist dieser Ort?“
– “Ich weiß es nicht.“
Tatsächlich blieben die Frauen zu jener Zeit immer zu Hause, sodass sie sich verlaufen würde, wenn sie alleine ausging. Also begann der Mann, jeden Passanten nach „Houmet Jemaa“ zu fragen.
Währenddessen folgte ihm die Frau und bedeckte ihr Gesicht mit dem Umhang, bis sie den Ort erreichten. Als der Mann nach dem Hause fragte, zeigten sie auf ein Haus mit weit geöffneten Türen und Leuten, die einige Stühle vom Begräbnis der vergangenen Nacht hinaustrugen. Der Mann zeigte auf das Haus und sagte: „Hier ist dein Platz!“ Die Frau ging hinein. Es herrschte dort sofort völliges Chaos. Die Frauen liefen durcheinander, schubsten sich gegenseitig, schrien und heulten, denn sie dachten an einen Dämon, der das Grab geöffnet hatte, um zu entkommen.
Etwas später jedoch kamen alle wieder zu Sinnen und begannen vor Freude zu weinen. Sie umarmten sich und küssten sich gegenseitig. Statt zu trauern, begannen sie nun zu feiern. Und der fremde Mann war sehr willkommen. Der Vater war einverstanden, dass er der Bräutigam seiner Tochter wurde.
Sie heirateten und lebten friedlich bis zu ihrem Ende.