Als ich vor über einem Jahr den Text „Linguistik und Linguisten im Film“ schrieb, dachte ich, dass wir für eine kurze Phase unser Leben auf Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche beschränken müssen. Jetzt können wir immer noch nicht uneingeschränkt reisen und diejenigen unter uns, die Projekte vor Ort in anderen Ländern durchführen wollten, müssen sich neue Wege überlegen.
Um einen detaillierten Blick auf andere Gesellschaften, Kulturen und Orte zu werfen, bieten ethnographische Filme viel Material. Unter ethnographischem Film (auch: ethnologischer Film) versteht man einen Dokumentarfilm, der fremde Kulturen, ihre Umweltbedingungen, Normen und Werte, Kulturtechniken, sozioökonomischen Grundlagen und soziale Strukturen in ihrer Umgebung darstellt. Die Filmerzählung stellt dabei meist eine Gruppe oder eine einzelne Hauptperson ins Zentrum. Zusammen mit der Fotografie gehört der ethnographische Film zum Gebiet der Visuellen Anthropologie.
Oft ist der Zugang zu ethnographischen Filmen schwierig: Sie werden auf kleinen, spezialisierten Filmfestivals vorgestellt, kommen aber selten in den Verleih oder als DVD in den Verkauf.
Als erster ethnographischer Film gilt „Nanook of the North“ ( https://youtu.be/lkW14Lu1IBo ) von Robert Flaherty (1922), ein Stummfilm über eine Inuit-Familie in der kanadischen Arktis. Seit dem Aufkommen der Tonfilme, der Entstehung leichter, transportabler Geräte und der Möglichkeiten synchroner Tonaufzeichnung können auch detaillierte und tiefe Einblicke in verschiedene Bereiche von Sprache und Kultur vermittelt werden.
So entstehen Filme über die Sprecher und Sprecherinnen kleinerer Sprachen, Minderheitensprachen und indigener Sprachen. Die Sprachen können hier nicht nur als Audiodatei aufgezeichnet werden, sondern in Videos, die umfangreiche zusätzliche Informationen wie Gestik und Mimik zeigen.
Andere Filme handeln über Migration, über das Ankommen in anderen Kulturen und Sprachen: Hierzu bietet z.B. das Institut für Anthropologie der Universität Hamburg eine spannende Auswahl studentischer Filme ( https://www.ethnologie.uni-hamburg.de/studium/methodenzentrum/ethnographischer-film.html )
Für diese und eine Vielzahl weiterer Themen kommt hier nun eine kleine Liste mit Online-Archiven ethnographischer Filme:
Archivo Antropología Visual: 2005 gegründet, Schwerpunkt Lateinamerika https://antropologiavisual.net/
Endangered Languages Archive (ELAR): Das eindrucksvolle Archiv, das inzwischen Materialien zu über 450 Sprachen enthält, bietet auch kurze Filmsequenzen https://www.elararchive.org/
Es gibt freie Materialien und solche, für die man eine (kostenfreie) Registrierung braucht. Hier gibt es Tipps zur detaillierten Suche und Links zur Registrierung https://elararchive.org/blog/2021/02/21/6-tips-for-getting-the-most-out-of-elars-new-platform/
Granada Centre for Visual Anthropology, Manchester: eines der weltweit führenden Institute für Visuelle Anthropologie stellt auf seiner Webseite eine Vielzahl von Filmen seiner Studierenden bereit http://granadacentre.co.uk/portfolio/
Die ethnologische Filmsammlung des Österreichischen Bundesinstituts für den wissenschaftlichen Film (ÖWF), Technisches Museum Wien: mit einer exzellenten Einleitung zum ethnographischen Film, die Beiträge sind dann nach Kategorien wie „Tanz“, „Materielle Kultur“ u.a. sortiert, können aber auch über eine Suchzeile mit freien Schlagwörtern gesucht werden https://www.mediathek.at/wissenschaft-als-film/das-projekt-wissenschaft-als-film/die-ethnologische-filmsammlung-des-oewf/
Die europäische Digitale Bibliothek Europeana: hier sind inzwischen eine Reihe von kurzen Filmen abrufbar, die sich mit Migration und Sprache bzw. Minderheitensprachen beschäftigen https://www.europeana.eu/de
Nur für Forscher und Forscherinnen zugänglich ist die Datenbank Ethnographic Video Online mit über 2.000 Stunden Filmmaterial ( https://www.evifa.de/de/news/meldungen/evo-vollumfaenglich-zugaenglich ). Um Online-Zugang zu den Videos zu bekommen, kann man sich beim Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie registrieren ( https://sozialundkulturanthropologie.fid-lizenzen.de/ ).