Der Wortschatz einer Sprache ist ständig im Wandel: neue Wörter entstehen, alte Wörter „sterben“, d.h. sie werden nicht mehr aktiv verwendet und irgendwann auch nicht mehr verstanden. Dieser Prozess ist unterschiedlich je nach Wortart: neue Substantive, Adjektive und Verben entstehen schnell und spontan. Andere Wortarten, wie zum Beispiel Artikel oder Zahlwörter, sind schwer veränderlich, hier dauert der Sprachwandel (wenn er überhaupt eintritt) lange Zeit.Neue Wörter entstehen, weil es neue Dinge zu benennen gibt, weil Sprecher und Sprecherinnen kreativ sein und sich von anderen abheben wollen oder weil sie bequem sind und Dinge kürzer ausdrücken wollen (das nennt man Sprachökonomie). Die Sprache ist dabei wie ein großer Baukasten mit bunten Klötzchen, aus denen man neue Wörter bilden kann. Wie bei Bausteinen passt auch bei der Sprache nicht alles zusammen, man muss bei der Wortbildung einige Regeln beachten. Andererseits kann man diese Regeln auch bewusst durchbrechen und sich damit absetzen. Weitere Bauklötze können wir aus anderen Sprachen entleihen.
Die weltweite Covid-19-Pandemie stellt uns fast täglich vor neue Situationen, daher hat sich in den letzten Monaten die Wortbildung beschleunigt. Die Linguistik ist längst darauf aufmerksam geworden und so hat das Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim ein spezielles Neologismenwörterbuch für die Corona-Pandemie aufgesetzt. ( https://www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp )
Was sind für neue Wörter im Deutschen entstanden und wie sieht es in anderen Sprachen aus? Das Deutsche entlehnt viele neue Wörter aus dem Englischen: social distancing, social bubble oder lock-down. Dabei schwankt die Schreibung oft, wie bei lock-down oder Lockdown oder lock down. Manchmal konkurrieren eine Zeit lang zwei Wörter, so bei shut down und lock down.
Die romanischen Sprachen tendieren eher dazu, neue Wörter in ihrer Sprache zu bilden oder aber bereits existierenden Wörtern eine neue Bedeutung zu geben. So heißt social distancing auf Französisch confinement, auf Spanisch aislamiento oder confinamiento.
Die Nutzung der Videotechnologie für berufliche und soziale Treffen hat eine Vielzahl neuer Wörter entstehen lassen. Dabei steht die App Zoom stellvertretend für die anderen Anbieter, so wie wir Tesa sagen und jeglichen Klebestreifen, auch den eines andere Herstellers meinen (im südamerikanischen Spanisch wird der Klebestreifen übrigens nach einer anderen Marke häufig cinta scotch genannt). Im Deutschen haben sich z.B. Zoommeeting, Zoomcall, zoomen und als Ergebnis dieser Tätigkeit Zoomfatigue herausgebildet. Das Spanisch kennt für die virtuelle Geburtstagsfeier zoompleaños, wobei diese Bildung durch die Aussprache von zoom- ähnlich wie cum-(pleaños) unterstützt wurde.
Viele Wörter sind aus der medizinischen Fachsprache in die Allgemeinsprache übergegangen: im Deutschen z.B. High-Care-Bett, Inzidenzwert oder präsymptomatisch, im Spanischen u.a. antígeno, asintomático, contagio, gel hidroalcohólico oder UCI (Unidad de cuidados intensivos, Intensivstation).
Ein anderes Wortbildungsprinzip ist das Schachtelwort, auch Kofferwort genannt, bei dem zwei Wörter verschmolzen werden. Im Spanischen gehören dazu beispielsweise balconazi (aus balcón und nazi), das eine Person bezeichnet, die vom Balkon aus die Nachbarschaft überwacht und Verstöße gegen die Ausgangssperre anzeigt, oder als Gegenstück den covidiota (aus Covid und idiota), der die Regeln der Pandemiebeschränkung nicht einhält. Das Deutsche kennt neben vielen anderen Wörtern die Pandematte (Pandemie + Matte) für die Langhaarfrisur, die während der Schließung der Frisörläden entsteht, oder pandemüde für den Zustand der Pandemiemüdigkeit.
Ein weiterer Bereich umfasst bildhafte und metaphorische Wortbildungen: Das Mini-Ischgl, ein Virus-Ausbruch an einem Ort, nach dem österreichischen Skiort Ischgl, an dem 2020 ein (Achtung Neologismus!) Super-Spreader-Event stattfand, ähnlich dem Infektionstsunami, einer Steigerung der Infektionswelle. Der Bekämpfung des Virus dient der Brücken-Lock-down, eine vielfach verspottete Wortbildung, die den Übergang in eine virusfreie Zeit symbolisieren soll.
Der Übergang von Fachsprache zu Allgemeinsprache bringt häufig einen Wechsel des Genus mit sich: So ist im Deutschen das Virus möglich, vielfach wird aber der Virus verwendet, da die viele andere Wörter auf –us auch männlich sind (https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/der-oder-das-Virus ). Für den Impfstoff überwiegt das Vakzin, aber der Duden kennt auch die Vakzine (sing.).
Dieser Text soll schließen mit einem der freundlichsten Lehnwörter: knuffelcontact (etwa: Kuschelkontakt) bezeichnete in Flandern, dem niederländischsprachigen Teil Belgiens, den einen einzigen engen körperlichen Kontakt, den man pflegen sollte. Es wurde zum Wort des Jahres 2020 gewählt worden und verbreitete sich anschließend nicht nur im Deutschen, wo es mit einer kleinen orthographischen Änderung und ohne Verständnisprobleme direkt als Knuffelkontakt übernommen wurde, sondern auch im Spanischen, wo es mit „compañero de mimos“ konkurriert. Da aber Spanien andere Regelungen für die Sozialkontakte erlassen wurden, konnte sich knuffelcontact nicht dauerhaft durchsetzen … es wurde einfach nicht gebraucht.