In den ersten sechs Artikeln haben wir gesehen, wie Kulturschock definiert werden kann, wie er abläuft und was man machen kann, um ihn abzumildern, abzufangen und zu überwinden. Das Hauptproblem bleibt, ihn zu erkennen.
Nicht immer ist die Situation so klar, dass ich mich automatisch mit Kulturschock beschäftige. Häufig hat auch der Arbeitgeber anderes zu tun, als den Angestellten auf die neue Situation hinzuweisen oder gar vorzubereiten.
Hier einige Geschichten, die helfen können, die eigene Situation zu verstehen.
Arne in Chile
Ich bin in Südamerika geboren und bekam von meinen Eltern eine Reise in mein Geburtsland geschenkt. Ich konnte kein Spanisch mehr, hatte mir keine großen Gedanken gemacht, was mich erwartete. Ich hatte drei Anlaufstationen von meinen Eltern, eine eigene über Freunde kam hinzu. Alle sprachen Deutsch und lebten schon länger im Land.
Allerdings: Die erste Station war eine rein chilenische Familie, die über meine Eltern einen Bezug zu Deutschland bekommen hatte. Alle fünf Kinder konnten Deutsch, der Vater gut Englisch, die Mutter und die Hausangestellte nur Spanisch. Kulturell waren sie natürlich chilenisch und sonst nichts.
Ein paar Ereignisse:
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Ich sollte mein Bett selber machen als meinen Beitrag zum Alltagsleben. Man hat allerdings wie in Frankreich oder England mehrere Decken, die unter die Matratze geschlagen werden. So was kannte ich nicht und konnte auch nicht damit umgehen.
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Ich fuhr relativ viel alleine durch die Stadt und wurde mit der Armut vieler Leute konfrontiert, was ich von zu Hause nicht kannte. Wie verhält man sich? Gibt man was, sollte man nicht? Ich war ziemlich verunsichert.
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Es war die Zeit der Diktatur von Pinochet (1973-1990). Es gab Demonstrationen und andere Menschenansammlungen, die wohl schneller zu Ausschreitungen hätten führen können. Das verstand ich aber nicht. Ich bin einmal in eine Studentendemonstration hingeraten, ohne es zu merken, und wurde von einer Freundin ermahnt.
All dies hat mich extrem verunsichert. Ich erinnere mich, dass ich einfach nicht wusste, was ich denken, fühlen und machen sollte. Fragen stellen hatte ich nicht gelernt. Hilflosigkeit war das dominierende Gefühl.
Ein Afrikaner in Göttingen (Deutschland)
Ein Afrikaner aus der Zentralafrikanischen Republik hatte ein Stipendium für eine deutsche Universität. Zunächst lernte er in einem kleinen Dorf in Südbayern Deutsch. In dem Dorf wussten die Leute, dass die Afrikaner nur sechs bis zwölf Monate bleiben, waren freundlich und distanziert. Kaum in Göttingen, der Universitätsstadt, angekommen, wurde er im Bahnhof von Rechtsradikalen zusammen geschlagen.
Neben den physischen Schäden waren die psychischen die größeren: Er war entsetzt, hatte Deutschland bisher nur als nett und zuvorkommend kennen gelernt. Die Reaktion der Polizei und der offiziellen Seite – schließlich handelte es sich um ein politisches Problem – war zurückhalten, was ihn vollends irritierte.
Wie hat er reagiert? Er studierte die politische Landschaft seines Gastlandes, versuchte zu verstehen, was passiert war und wie die Angreifer ihre Aktion rechtfertigten. Als ich ihn kennen lernte, hatte er den Schock überwunden, hatte viele Vergleiche mit seinem eigenen Land gezogen und wusste, wo er gut aufpassen musste und nicht ohne Begleitung hingehen sollte.
Fatma aus Algerien in Tunis
Sie stammte aus den algerischen Bergen, war mit einem Italiener verheiratet und lebte ja „nur“ im Nachbarland. Sie konnte fünf Sprachen, u.a. den algerischen Dialekt, der dem tunesischen sehr ähnlich ist, und Französisch.
Trotzdem kam es zu vielen Irritationen: Tunesier sind auf Massentourismus und viele Fremde eingestellt. Sie wissen, diese Leute bleiben nur kurz, und viele Einheimische versuchen, Profit mit den Fremden zu machen, die sie ja wohl eh nicht wiedersehen.
Algerier kennen kaum Fremde und heißen sie sehr willkommen. Geld für Gefälligkeiten ist Tabu und beleidigend. Sie sind temperamentvoller und werden schneller direkt mit Anschuldigungen und negativen Kommentaren.
Im Arbeitsalltag sind Algerier direkter und offener, während ein Tunesier manchmal erst guckt, was er jetzt gewinnen kann. Dafür ist er ruhiger und zurückhaltender in Konfliktsituationen.
Die Folge bei Fatma: Irritationen, Unverständnis, lautstarke und unhöfliche Konflikte.
Dies ist ein typisches Beispiel dafür, dass jemand meint, die Nachbarkultur wäre ja mehr oder weniger ähnlich wie die eigene. Das ist sie nie: Geschichte, Sprache und politisches System sind häufig sehr anders und müssen erst studiert und verstanden werden. Beispiele in Europa sind die Nachbarländer Niederlande und Deutschland, Portugal und Spanien oder auch Irland und Großbritannien. Gleiches gilt wohl auch für Kanada und die USA.
Redouan aus Tunis zurück in Tunis
Er hatte Tunesien wegen seiner Frau verlassen, war nach Frankreich gekommen, hatte geheiratet, zwei Kinder bekommen und die Staatsangehörigkeit angenommen, um dann nach zwölf Jahren nach Tunesien zurückzukehren. Er hatte einen guten neuen Job bekommen, der ihn motivierte zurückzugehen, der ihn allerdings auch komplett in Beschlag nahm. Für ihn eine gute Wahl.
Seine Familie kannte Tunis aber nur vom Urlaub. Seine Frau konnte kein Arabisch, seine Kinder ebenfalls nicht. In Frankreich hatten die Großeltern um die Ecke gewohnt und mit geholfen, so dass die Frau auch arbeiten konnte. Die Lehrer waren nett und motivierten die Kinder zu lernen.
In Tunis änderte sich alles: Die Kinder konnten sich nur bedingt mit ihrer Umgebung verständigen, die Frau auch. In der Schule herrschte ein anderer Ton: Es wurde immer mal wieder geschrien und geschlagen.
Die Frau konnte den Schmutz in den Straßen nur schwer ertragen. Wäsche hing überall auf den Balkonen, was in Frankreich aus ästhetischen Gründen sogar verboten ist.
Eines Tages teilte die ältere Tochter ihrer Mutter mit, dass sie ab dem nächsten Tag nicht mehr in die Schule gehen würde.
Was war passiert?
- Die Kulturunterschiede waren eklatant. Auch wenn der Vater Tunesier war, konnte er der Familie wenig helfen. Er litt ebenfalls unter einem Wiedereingliederungsschock, da sich das Land wie auch er selbst sehr verändert hatten.
- Die Großeltern fehlten, welche vorher sehr präsent gewesen waren. Andere Freunde oder Verwandte konnten nicht in diese Bresche springen.
- Niemand war wirklich vorbereitet, weder Eltern noch Kinder. Es ging zurück ins Land des Vaters, in etwas Bekanntes – augenscheinlich!
- Die Sprachbarriere tat ihr Übriges! Arabisch lernt man nicht über Nacht, die Frau hatte weder Zeit noch Energie, es überhaupt zu versuchen.
Nur mit viel Mühe und professioneller psychologischer Hilfe konnte die Familie die Situation meistern.
Franziska in Tunis
Eine Deutsche, zum Islam konvertiert und mit einem Tunesier verheiratet, zog mit ihm zurück zu seiner Familie. Allerdings betrieben sie weiterhin mit ihren Eltern in Deutschland ein Hotel. Der Mann musste regelmäßig zurück, um zu helfen. Sie blieb mit den Kindern dann alleine, nur ihre Schwägerin konnte dann einspringen. Sie sprach halbwegs Arabisch, aber kein Französisch. Ihre Hauptmotivation war die Religion: Sie wollte, dass ihre Kinder in einem islamischen Land aufwachsen.
Mehrere Probleme tauchten schnell auf:
- Der Jüngste sollte auf eine französische Schule, kam dort aber nicht klar. Die Sprache, die er nur dort hörte, ist schwierig und er weigerte sich, irgendwelche Anstrengungen zu unternehmen. Die ältere Tochter aber konnte schon gut Französisch und kam klar.
- Der Vater fehlte immer wieder, wenn seine Hilfe nötig wäre. Seine Familie konnte die Rolle nicht übernehmen.
- Tunesien ist ein arabisch-islamisches Land, aber mit einer relativ liberalen Tradition. So werden sowohl in der Schule als auch in der Familie des Mannes Dinge getan, die die konvertierte Mutter nicht tolerieren will. Es kommt zu Konflikten.
Schlußendlich musste eine neue Schule für den Sohn gesucht werden. Die Familie entschied sich nach einigen Misserfolgen der Schulsuche, nach Deutschland zurückzukehren. Der Sohn genießt die vorbereitende deutsche Fernschule mit der Mutter und lernt schon in Tunesien relativ gut lesen.
Was ist hier schief gelaufen? Auch hier fehlte die Vorbereitung. Es gab kein Bewusstsein für kulturelle Unterschiede und der islamische Kontext wurde als eine Hilfe vorausgesetzt, die dann nicht eintraf.
Was kann man aus diesen Geschichten lernen?
Hauptsächlich zwei Dinge gehen schief:
- Jemand zieht international um, verlässt ein Land und geht in ein anderes. Fast immer hat dies einen Sprach- und Kulturwechsel zur Folge und damit einen Kulturschock. Wir müssen hier festhalten: Auch wenn jemand diesen Schock nicht wirklich fühlt, er ist da!
- Daraus folgt, dass man sich auf diesen Schock in irgendeiner Form vorbereiten sollte. Schon darüber nachdenken, was mich erwarten könnte, kann helfen.
Für weitere Ideen siehe unseren Artikel „Wie bereite ich mich vor?“