In einem fernen Land hatte sich ein Ehemann von seiner Frau scheiden lassen. Scheidungen waren dort überhaupt nicht üblich, vor allen in einigen sozialen Schichten, und selbst bei ernsthaften Konflikten und gegenseitiger Abneigung wurden sie als Lösung niemals akzeptiert. In den sehr seltenen Fällen, wo ein Mann sich trotzdem zu einer Scheidung entschloss, war dies eine Schande für ihn. Er wurde geächtet, alle Leute blickten auf ihn herab, und nicht nur auf ihn, sondern auch auf seine ganze Familie, ja sogar auf seine Nachkommen.
Seine Frau wurde von ihrer Familie abgelehnt und wollte lieber sterben als mit dieser Last weiter zu leben.
So erging es auch Jabra, deren Ehemann sie verlassen und sich hatte von ihr scheiden lassen. Jabra war verwirrt und kopflos, als wäre der Himmel auf ihren Kopf gefallen und sie wusste nicht wohin. Sie hatte Angst vor ihren Eltern und wollte nicht mehr nach Hause gehen und schämte sich an die Türen ihrer Verwandten und Nachbarn zu klopfen, weil sie deren Reaktionen fürchtete.
Sie lief stundenlang umher von Trauer und Verzweiflung gepeinigt, und als die Nacht gekommen war, befand sie sich mitten in einem Wald. Sie setzte sich unter einen Baum, um sich auszuruhen. Während sie in den Himmel blickte und über das Leben nachdachte, das sie verloren hatte, hörte sie ein Brüllen, drehte sich um und sah erstaunt, wie ein Löwe auf sie zukam. „Warum wagst du es, in meinen Wald einzubrechen? Ist dein Leben für dich so unwichtig, dass du sterben willst?“ fragte der Löwe. „Nein, ich will nicht sterben“, sagte sie. „Aber mein Mann hat sich von mir scheiden lassen“, klagte Jabra. „Was hat du mit ihm gemacht?“ – „Ich habe nichts getan“, antwortete sie. „Er war mir gegenüber ungerecht. Wirst du es auch sein und mich fressen? Was habe ich falsch gemacht, lieber Gott?“ rief Jabra. „Ist schon in Ordnung, du bist herzlich eingeladen zu bleiben. Möchtest du mit mir leben?“ bot ihr der Löwe an, „dann folge mir.“
Sie folgte ihm zu seiner Höhle, in der sie nun bei ihm wohnte. Jeden Morgen ging er auf die Jagd und brachte ihr ein Kaninchen, ein Rebhuhn, einen Fuchs oder eine Gazelle mit. Sie bereitete auf dem Feuer dann das Abendessen, und so lebten die beiden glücklich und zufrieden und streiteten sich nicht ein einziges Mal. Sie war gut zu ihm, und er war dankbar für ihre Anwesenheit.
Eines Abends kam er nach Hause und fand sie still, kaum in der Lage zu sprechen. „Was ist los?“ fragte er. „Nichts?“ antwortete sie.
Am nächsten Tag passierte dasselbe. „Was ist denn los?“ fragte der Löwe wieder. „Gibt es etwas, dass du brauchst, hat dir jemand etwas angetan?“- „Nein“, sagte sie.
„Vermisst du vielleicht deine Familie und deine Freunde?“-
„Ja, ich vermisse meine Mutter, meine Geschwister, unser Haus und unsere Nachbarn. Wie gerne möchte ich sie besuchen!“ rief Jabra. „Du hättest mir das sagen können. Ist das alles? Ich werde dich morgen früh zu ihnen bringen“, sagte der Löwe beruhigend.
Am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg in die Stadt. „3 Tage später werde ich dich abholen“, sagte der Löwe. Er verabschiedete sich von ihr und ging zurück in den Wald.
Sie betrat die Stadt, ging zu ihrem Haus und klopfte an die Tür. „Wer ist da?“- „Ich bin es, Jabra.“- „Jabra?“ riefen ihre Verwandten. Ihre ganze Familie stürmte zur Tür, küsste und umarmte sie, die Nachbarn hörten den Lärm und kamen herbeigerannt, begrüßten sie auch, und es gab ein großes freudiges Wiedersehen.
„Wo bist du gewesen?“ fragten alle. „Ich will nichts mehr mit den Menschen und mit Männern zu tun haben. Ich bin jetzt die Frau eines Löwen,“ verkündete Jabra stolz. „Was? Du hast einen Löwen geheiratet?“ wunderten sie sich.
Sie fing an, ihre Geschichte zu erzählen und den Löwen zu preisen, wie es alle Frauen tun, wenn sie für ihre Ehemänner schwärmen. Sie sprach von seinem Mut, seiner Stärke, was er für sie tat, und wie alle Tiere und Männer ihn fürchteten, dass sie glücklich mit ihm lebte, dass er nicht wie andere Männer in den Nächten war, und dass er zu arbeiten wusste und tat, was sie wollte. Alle Frauen waren beeindruckt, von dem, was sie hörten. Eine von ihnen sagte: „wäre es nicht besser gewesen, wenn ich auch mit einem Löwen verheiratet wäre als mit meinem nutzlosen Ehemann?“ Aber eine andere meinte: „Gott! Wenn ich mit einem Löwen verheiratet wäre. Was wäre, wenn er mich im Schlaf fressen würde?“ Jabra lobte den Löwen ständig gegenüber ihrer Familie, pries seine Taten und verherrlichte ihn. Aber Mütter sind immer misstrauisch. Also fragte die Mutter ihre Tochter: „meine liebe Tochter, behandelt er dich auch wirklich gut? respektiert er dich? erschreckt er dich nicht nachts oder ähnliches?“ – „Nein, liebe Mutter, so etwas ist noch nie passiert. Er ist der sanfteste aller Männer.“ In der letzten Nacht ihres Aufenthaltes bestand die Mutter darauf, dass ihre Tochter ihr etwas Negatives gestand. „Es gibt in der Tat etwas, das ich an ihm nicht mag. Er hat einen schlechten Atem.“
Der Löwe, der ihr gesagt hatte, er würde sie am 3. Tage ihres Aufenthaltes im Morgengrauen abholen, kam schon etwas früher. Er stand hinter dem Haus, als Mutter und Tochter wach waren und hörte, wie die Tochter der Mutter sagte: „Er hat einen schlechten Atem.“
Im Morgengrauen kehrte er zurück, um sie abzuholen. Sie gingen schweigend und sie merkte, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, denn er war innerlich wütend. „Was ist los mein Schatz?“ fragte sie. „Nichts“, antwortete er kalt.
Eines Tages, als sie beide im Wald spazieren gingen, fanden sie eine Axt. „Hier nimm die und schlag mich zwischen die Augen,“ befahl der Löwe. Sie fing an zu lachen. „Dich schlagen? Wie? Mit einer Axt? Das würde ich niemals tun!“- „Tu es!“- „Ich würde niemals meinen Herrn schlagen. Und das auch noch mit einer Axt! Ich könnte es niemals tun.“
Der Löwe wurde wütend, seine Augen färbten sich rot wie 2 glühende Kohlen. „Schlag mich oder ich werde dir den Kopf abreißen!“ brüllte der Löwe. Sie hatte Angst, nahm die Axt in ihre Hände, schwang sie über ihren Kopf und ließ sie auf den Löwenkopf fallen. Sie spaltete ihn in 2 Hälften, so dass er stark blutete. Sie suchte nach Pflanzen im Busch, die sie auf die Wunde legte, damit die Blutung aufhörte. 30 Tage und Nächte vergingen, in denen sie ihn pflegte und die Pflanzen auf seine Wunde legte, bis sie schließlich verheilt waren. „Gott sei Dank für diesen glücklichen Tag! Du bist nun endlich geheilt!“ rief Jabra aus.
„Sei still!“ rief der Löwe, „wir schimpfen nicht über jemandem mit schlechten Atem!“ – „Wovon redest du?“ – „Pass auf deine Worte auf, Jabra! Die Zeit heilt alle Wunden, aber schlechte Worte bleiben für immer im Herzen,“ sagte der Löwe, sprang sie an und fraß sie auf.